29.11.2020
Wie tief eingegraben unsere Urteile über verschiedene Menschengruppen sind, habe ich in diesem Sommer bei einem Teambuilding erleben dürfen. In einem hochtechnisch arbeitenden Unternehmen mit rund 350 Mitarbeitenden war im Frühjahr eine Frau Geschäftsführerin geworden. Noch dazu eine junge Mutter, die 2 kleine Kinder hat. Eine Frau, die hoch-qualifiziert ist, aber keinen Ingenieurs-Hintergrund hat. Es ist kein böses Wort gefallen, aber zwischen den Zeilen war die Distanzierung, der Mangel an Unterstützung und der Zweifel an den weiblichen Fähigkeiten deutlich zu lesen. Wäre das einem Mann ohne Ingenieurs-Hintergrund in der Runde auch so passiert? Da haben ich meine Zweifel.
.... oder Dünnhätigkeit?
Wokeness, der Begriff kommt von woke (engl. ,erwacht‘) und bezeichnet ein erhöhtes – erwachtes - Bewusstsein für Rassismus und Diskriminierung. In den Augen mancher Menschen fördert die erhöhte Aufmerksamkeit eine unverhältnismäßige Dünnhäutigkeit, sodass selbst harmlose Formen von Kritik als Affront wahrgenommen werden.
Das ist doch eigentlich eine seltsame Retourkutsche. Ist es nicht ganz natürlich, wenn nach generationen-währendem Rassismus das Pendel erstmal etwas heftiger in die andere Richtung ausschlägt, bevor es sich wieder ‚einpendelt‘?
Wenn wir uns das Pendel bildlich vorstellen, dann ist doch ganz klar: Je höher es gehalten wurde, desto weiter schlägt es auch zur anderen Seite aus – bevor irgendwann Beruhigung eintritt. Aber so weit sind wir leider noch lange nicht….
Methoden der Kritik?
Ich glaube, es ist auch eine Methode ist, Kritik im Keim zu ersticken, indem man ihr Überzogenheit vorwirft. So war (und ist?) es ja auch mit dem Feminismus. Immer wieder wurde behauptet, dass es alles nicht schlimm ist und dass sich die Dinge doch schon im Wandel befinden. Jahrzehnte haben damit viele Menschen – vor allem Frauen – die Füße still gehalten. Und jetzt ist es der Rassismus, der doch nicht mehr so gravierend sein soll.
Natürlich kann es auch sein, dass jemand mal zu empfindlich reagiert. Aber gemessen an den vielen Ungerechtigkeiten, die für Minderheiten zum Alltag gehören, müsste das doch sehr verständlich sein.
Vor-Urteile liegen in unserer Natur
Klar ist aber auch: Es liegt in der Natur des Menschen, schnell Urteile zu fällen. Davon hing früher unser Überleben ab. Wir versuchen in Bruchteilen von Sekunden, unsere Unsicherheit zu besiegen, indem wir alles, was uns begegnet, abgleichen mit dem was wir schon erlebt haben. Gut oder schlecht? Vertrauenswürdig oder böse? Hilfreich oder hinderlich? Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat ein tolles Werk darüber geschrieben (Thinking fast and slow). Unsere schnellen Urteile sind mit Vorsicht zu genießen, weiß ich seitdem. Ich könnte auch sagen: Vorurteile liegen in unserer Natur. D.h. aber auch, wir müssen Wege finden, uns über zweifelhafte Urteile auszutauschen, ohne dafür den urteilenden Menschen in seiner Gesamtheit zu verurteilen. Und: Wir müssen bereit sein, unsere Urteile immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Wie gelingt Dir das? Und wie schaffst Du es, wohlwollend dem Menschen gegenüber einzelne seiner/ihrer Meinungen zu kritisieren? Ich freu mich über Deine Kommentare in unserer Facebook-Gruppe: www.facebook.com/groups/generationliebe. Eure Susanne