05.12.2020
Bis vor einem halben Jahr habe ich noch angenommen, dass die Streitkultur in unserem Land ‚nur‘ im Umgang mit den Anhängern der AfD zu wünschen übriglässt. Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass es gesellschaftlich ein großer Fehler ist, Andersdenkende auszugrenzen – solange sie auf dem Boden der Verfassung handeln. Doch nun macht das nächste Thema die Runde, bei dem eine gute Streitkultur auf der Strecke bleibt: die COVID-19-Impfung.
Im Zuge der Debatte über die bald mögliche Impfung gegen COVID-19 wird der Vorwurf, wer sich nicht impfe sei asozial auch in den öffentlich-rechtlichen Medien ohne mit der Wimper zu zucken transportiert. Wollen wir wirklich so miteinander umgehen? Ich finde das bedenklich. Du bist asozial ist ein pauschales Urteil, das besagt, dass dieser Mensch nicht fähig oder willens ist, in einer Gemeinschaft zu leben. Es gibt dann nur noch eine Handlung, die richtig ist. Alle anderen stehen draußen. Dass man persönliche Bedenken gegen die Umsetzung einer medizinischen Empfehlung haben kann, wird nicht mehr berücksichtigt.
Eskalation statt Insteresse
Die Impfpflicht soll es nicht geben. Sicher hat die Regierung sich genau überlegt, dass damit eine zu große Diskussion angezettelt würde. Doch dieses Pauschal-Urteil über alle Impfgegner trägt nicht dazu bei, dass die Menschen sich offen über ihre unterschiedlichen Überzeugungen und ihre Beweggründe austauschen – und so vielleicht auch zu neuen Erkenntnissen kommen. Im Gegenteil: Wer den Vorwurf asozial zu sein in den Raum stellt, eskaliert die Debatte, zeigt kein Interesse an den Beweggründen des Andersdenkenden und macht aus einer anderen Meinung einen Charakterzeug, mit dem der ganze Mensch in Verruf gebracht wird.